Manchmal fasst Mr. Hayabusa an seine Narbe, streicht mit seinen Fingerspitzen auf ihr entlang, bis er auf die Muskelstränge seines Nackens trifft. Die Narbe gehört zu ihm, sie erinnert ihn daran, wie viel Glück er hat, noch am Leben zu sein.
Zur Jahrtausendwende führte der japanische Hersteller Suzuki die Hayabusa ein, das erste Serienmotorrad, das 300 Kilometer pro Stunde schaffte. Hayabusa, zu Deutsch Wanderfalke, das schnellste Tier auf der Erde, das im Sturzflug bis zu 320 km/h erreicht. Elmar Geulen kaufte sich eine, tunte sie und fuhr mit ihr Straßenrennen.
Vier mal wurde er deutscher Meister im Motocross wechselte zum Straßenrennen und nahm an Langstrecken Meisterschaften überall auf der Welt teil. Zwölfmal fuhr er die „Tourist Trophy“ auf der Isle of Man, das gefährlichste Motorradrennen der Welt, bei dem seit 1907 mehr als 250 Menschen ums Leben kamen.
Obwohl Geulen seinen Körper und das Motorrad immer an die Grenze treibt, geht bis auf ein paar Knochenbrüche, Prellungen und Sehnenrisse dabei immer alles gut.
Dann kam der Pfingstsonntag des Jahres 2013.
Das Vorderrad bleib stehen, er wurde über den Lenker geschleudert, knallte mit dem Kopf zuerst auf den Asphalt, sein Körper überschlug sich. Als später der Rennarzt nach ihm schaute, sagte Mr. Hayabusa bloß, dass er Prellungen habe. Er wünschte sich nur eine schmerzstillende Spritze. Am nächsten Tag fuhr er sein Wohnmobil unter fast unerträglichen Schmerzen 450 Kilometer von Bremerhaven zurück ins Rheinland. Mr. Hayabusa behauptet von sich, dass er verrückt sein, aber nicht bescheuert. Deswegen ließ er sich nach seiner Rückkehr röntgen, ein Arzt stellte einen dreifachen Genickbruch fest, er empfahl eine unverzügliche Operation. Nicht lange danach schnitt Dr. Theis den Patienten am Nacken auf und setzte ihm 16 Schrauben und eine Stahlplatte ein.
Die Tage und Wochen danach waren fürchterlich. Mr. Hayabusa konnte nicht ohne Schmerzen sitzen oder liegen, konnte kaum etwas essen, verlor 20 Kilo Gewicht. Als die Ärzte ihm sagten, dass er vielleicht nie wieder Motorrad fahren können würde, öffnete sich vor ihm ein schwarzes Loch, in dem er zu verschwinden drohte. „Ich habe überlegt, mit allem Schluss zu machen“, sagte er. Er überstand die Tage nur selten ohne Schmerzmittel und fragte sich, wofür überhaupt. er war gewöhnt daran, alles sofort in die Tat umzusetzen, nun musste er vorsichtig sein, geduldig, musste auf jedes Zeichen seines Körpers hören. So kämpfte er sich zurück.
Und so wird er irgendwann im kommenden Jahr, vielleicht im Frühling, wahrscheinlich im Sommer, mit seinem Wohnmobil zu einem jener zugänglichen Flugplätze irgendwo im Land fahren.
Er wird spüren, wie es einen Wimpernschlag dauert, bis das Motorrad reagiert, mit einem Ruck losschießt und beschleunigt. 100 km/h nach zwei Sekunden, 200 nach fünf, 300 nach zehn…
JWD. Nr. 9 Januar/Februar
Text: Marc Bädorf